Reportage Porträt Eva Wolfangel

Stuttgarter Zeitung, 10.1. 2013 - pdf

In keinem europäischen Land arbeiten mehr Frauen in Führungspositionen als in Norwegen – trotzdem sind die Geburtenraten hoch. Das geht dank einer fortschrittlichen Familienpolitik und einer Gesellschaft, die sich modernen Rollenbildern öffnet. 

Sandnes - Draußen ist es noch stockdunkel, drinnen hockt die zweijährige Sophia im gedämpften Licht und malt. Das blonde Mädchen reibt sich die verschlafenen Augen. Um 6.30 Uhr kämpft auch Mutter Emilia Thingbo gegen Müdigkeit. Sie sitzt neben ihrer Tochter auf dem weißen Ledersofa, ein Schminkset auf dem Tisch und mustert sich mit kritischen Blicken in einem Taschenspiegel. Dann legt sie dezentes Make-up auf.

Frisch geduscht steigt ihr Mann Georg die Wendeltreppe herunter. Während Emilia Brote schmiert und die Kindergartentasche packt, richtet Georg Müsli für Sophia, füttert sie, zieht sie an und kämpft den allmorgendlichen Kampf ums Zähneputzen, der meist damit endet, dass Sophia die Zahnbürste erobert und Papas Zähne putzt. Punkt halb acht steht die Kleinfamilie in Sandnes, einer norwegischen Kleinstadt bei Stavanger, bleich und fröstelnd vor dem Haus. Emilia nimmt ihre Tochter auf den Arm und küsst sie. „Tschüss, bis heute Abend.“ Sie wird ins Büro fahren, ihr Mann wird Sophia auf dem Weg zur Arbeit in den Kindergarten bringen. Erst neun Stunden später wird sich die Kleinfamilie wieder treffen. So wie jeden Tag.

Alltag in einer norwegischen Familie. Was in Deutschland die Ausnahme ist, ist hier die Regel: Mütter arbeiten Vollzeit, viele gar in Führungspositionen, die Frage „Kind oder Karriere“ stellt sich nicht. Norwegen liegt 2011 nicht nur mit einer Geburtenrate von rechnerisch 1,95 Kindern pro Frau in der Spitzengruppe Europas (zum Vergleich: Deutschland 1,38). Auch die Zahl der Frauen in Führungspositionen ist eine der höchsten, seit 2008 eine umstrittene, aber wirksame Frauenquote eingeführt wurde: 40 Prozent der Aufsichtsratsplätze aller größerer börsennotierter Aktiengesellschaften müssen mit Frauen besetzt sein. Das funktioniert nur mit einer fortschrittlichen Familienpolitik, deren Herzstück eine gut organisierte öffentliche Kinderbetreuung ist. Jedes Kind bekommt einen Kindergartenplatz: 2008 besuchten 87 Prozent aller Kinder zwischen einem und fünf Jahren einen Kindergarten, Tendenz steigend. Maximal 300 Euro müssen die Eltern einkommensabhängig für die Betreuung bezahlen, den Rest übernimmt der Staat. Öffnungszeiten bis 16.30 Uhr sind normal, private Einrichtungen sind oft noch länger auf. So haben selbst Alleinerziehende die Möglichkeit, Vollzeit zu arbeiten.

Für Emilia waren Kindergärten fremd

Sophia besucht ganztags den Kinder garten, seit sie zehn Monate alt ist. Ihre Mutter Emilia schrieb während der einjährigen Elternzeit ihre Masterarbeit im Fach Sicherheitsmanagement. Als ihre Tochter eins wurde, kehrte Emilia in Vollzeit als Management-Assistentin zurück an ihren Arbeitsplatz in einem Bauunternehmen für Offshorewindanlagen. Ein klassischer norwegischer Lebenslauf. Für Emilia aber war es auch ein kleiner Kulturschock: Sie selbst kommt aus Rumänien und besuchte nie einen Kindergarten. Kinderbetreuung war Aufgabe der Großfamilie. „Ich war skeptisch gegenüber dem System der Kindergärten“, gibt sie zu. Nach einem Jahr hat sich die Skepsis gelegt: „Ich würde sicher keinen so guten Job machen wie die Erzieherinnen“, sagt sie heute bescheiden.

Wer sie fragt, ob sie je hin- und hergerissen war zwischen Kind und Karriere, erntet einen verständnislosen Blick. „Das widerspricht sich doch nicht.“ Wie die meisten Norwegerinnen kann sie sich ein Leben als Hausfrau nicht vorstellen: „Wir Frauen wollen unabhängig sein und etwas Sinnvolles tun.“ In ihrer Nachbarschaft beobachtet sie einen Trend zum vierten Kind. „Das hat auch etwas mit Status zu tun“, vermutet sie, „eine Frau, die vier Kinder hat und arbeitet, muss eine sehr starke Frau sein.“

Aber es sind auch die Männer. Als Emilia schwanger wurde, kündigte Georg seinen Job bei einem US-amerikanischen Unternehmen und suchte sich einen neuen. „Ich musste damals 60 bis 70 Stunden pro Woche arbeiten, das konnte ich mir mit Familie nicht vorstellen“, sagt er rückblickend. Heute arbeitet er für einen Anbieter von Videokonferenz-Systemen – und geht mit gutem Beispiel voran. Maximal bis 16 Uhr ist er im Büro. Wenn dringende Aufgaben bis dahin nicht abgeschlossen sind, arbeitet er von zu Hause weiter. Oft per Videokonferenz. „Genau das will ich unseren Kunden ja zeigen: dass uns die Technik das Leben erleichtert und Zeit spart.“ Manchmal hat er Sophia auf dem Schoß, wenn er am Bildschirm Kundengespräche führt. Noch nie wurde er da für  schräg angesehen. „Kinder gehören schließlich zum Leben.“ Wenn Sophia krank ist, bleibt er abwechselnd mit seiner Frau tageweise zu Hause. Insgesamt zehn Tage im Jahr kann jedes Elternteil in solchen Fällen bezahlt freinehmen. Die Unternehmen bekommen die Kosten vom Staat ersetzt.

Die Chefin ist 36 Jahre alt und hat drei Kinder

Kurz nach Emilia betritt ihre Chefin das Büro im Gewerbegebiet von Sandnes. Kirsti Gerhardsen ist kaum angekommen, schon ist sie umringt von Kollegen. Als Direktorin für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt ist sie gefragt: Eine Abteilung hat ein Audit und will Tipps, andere Manager besuchen die Dependance für ein Meeting, ein Journalist möchte mehr zur neuen Sicherheitskampagne wissen, die Kirsti entwickelt hat. Die Frau mit den braunen kurzen Haaren steht im Trubel vor der Teeküche. Sie begrüßt ihre Kollegen wie Freunde, manchen streicht sie über den Arm. Sie kann nichts so schnell aus der Ruhe bringen.

Schließlich ist sie um diese Zeit schon seit drei Stunden als Organisationstalent auf den Beinen. 5.30 Uhr: aufstehen, duschen, anziehen, Frühstück vorbereiten, 6.15 Uhr: die drei Kinder wecken, beim Anziehen helfen, frühstücken, Brote schmieren, die Söhne Brage und Aksel (6 und 9 Jahre) zur Schule fahren, Tochter Lykke (3) im Kindergarten abliefern, dann in der Rushhour zur Arbeit. Wenig Schlaf und eine minutiöse innerfamiliäre Zeitplanung sind der Preis für Kinder und Karriere. Dafür hat Kirsti mit 36 einen Direktorenposten und ist dreifache Mutter.

Als sie sich vor fünf Jahren auf die Stelle bewarb, war ihr jüngerer Sohn gerade ein Jahr alt. „Im Bewerbungsgespräch sprach ich mit meinem künftigen Chef über unsere Kinder. In der Chefetage hier haben fast alle Kinder.“ Während eine deutsche Mutter in solchen Gesprächen mit Fragen rechnen muss wie „Und wer kümmert sich um die Kinder? Was ist, wenn sie krank sind?“, warb ihr Chef mit flexiblen Arbeitszeiten und der Möglichkeit der Heimarbeit. Auch dass Kirsti in der Regel gegen 16 Uhr Feierabend machen wollte, war kein Thema. Wenn während der Arbeitszeit ein Elterngespräch in der Schule oder eine Vorführung im Kindergarten stattfindet, gehen die Eltern selbstverständlich hin. „Es gibt ein großes Vertrauen untereinander, dass jeder seine Arbeit macht“, sagt Kirsti. Sie hat beobachtet, dass Mütter oft effizienter arbeiten als flexible Jungmanager, weil sie gewohnt sind, sich mit knapper Zeit besser zu organisieren.

Halbtags geht auch als Bauingenieur

Um 13 Uhr wartet ihr Mann Johnny Ger hardsen im Kleinbus der Familie vor der Grundschule seiner Söhne. Aksel und Brage erreichen den Bus mit roten Wangen im Laufschritt, umringt von Mitschülern. Sie rufen freudig „Papa!“ und balgen sich spielerisch um die Plätze im Bus. Auch ihre Freunde finden Platz im Kofferraum. Ein nachbarschaftlicher Abholservice. Johnny liebt seinen Job als Bauingenieur. Dass er trotzdem jeden Tag um 12.30 Uhr Feierabend macht, um seine Kinder von der Schule abzuholen, ist für den drahtigen schmalen Mann mit den kurzen braunen Locken kein Widerspruch. „Es ist toll, Zeit mit den Kindern zu haben und ihre Entwicklung zu verfolgen“, sagt er.

Neben dem Recht auf einen Kindergartenplatz gibt es in Norwegen für jedes Schulkind bis zehn Jahren einen Hortplatz. Aber Aksel wollte dort nicht hingehen. „Da haben wir überlegt, dass einer von uns vorübergehend weniger arbeiten sollte“, sagt Johnny, „und ich hatte Lust darauf.“

Auch das Recht auf Teilzeitarbeit für Eltern gilt nicht nur auf dem Papier. Wer es in Anspruch nimmt, setzt im Gegensatz zur deutschen Praxis nicht die nächste Beförderung aufs Spiel. Auch wenn ein Mann wegen seiner Kinder Wert auf einen frühen Feierabend legt, bedeutet das nicht, dass ihm die Arbeit unwichtig ist. „Man ist als engagierter Vater sogar sehr angesehen“, sagt Johnny. Nach der Schule macht er mit den Jungs Hausaufgaben, kocht und holt Lykke vom Kindergarten ab. Wenn Kirsti gegen 16.30 Uhr nach Hause kommt, läuft die Waschmaschine und das Essen dampft auf dem Herd.

Zeit. Dieses Thema treibt auch Emilia um. „Wir haben nicht viel Zeit füreinander“, sagt sie nach dem Abendes sen. Sie sitzt im warmen Badezimmer auf dem Rand der halbrunden Wanne, Sophia planscht darin, spritzt mit Wasser und jauchzt, Vater Georg steht am Wickeltisch und legt das kleine Kapuzenhandtuch zurecht. Familienzeit. Diese Zeit zelebriert die kleine Familie, denn gemeinsame Aktivitäten sind wertvoll geworden. Manchmal packt Emilia das schlechte Gewissen und die Sorge, zu wenig für ihre Tochter da zu sein. Deshalb will sie vorerst kein zweites Kind. „Vielleicht in ein paar Jahren“, sagt sie, „jetzt soll Sophia meine ganze übrige Energie haben.“ Denn das ist nicht viel. Eine gute Familienpolitik kann die Doppelbelastung durch Vollzeitarbeit und Kindererziehung nur lindern.

Während Sophia in der Wanne planscht, liegt die ein Jahr ältere Lykke wenige Kilometer entfernt auf dem Sofa und schläft. Beim Kochen hat das Mädchen mit den blonden Zöpfen auf der Arbeitsplatte gesessen und ihrem Vater munter von ihrem Tag erzählt. Nach dem Essen hat sie die Müdigkeit gepackt, der lange Tag im Kindergarten ist noch anstrengend für sie. Sie hört ihre tobenden Brüder nicht. Johnny hat Feuer im Kamin gemacht und sich mit einer Zeitung aufs Sofa gesetzt. Knisternde Gemütlichkeit. Die Spülmaschine brummt. Die Eltern haben eine Verschnaufpause. Kirsti klappt ihren Laptop am Küchentisch auf. Endlich in Ruhe arbeiten.

Von Eva Wolfangel