Reportage Porträt Eva Wolfangel

Stuttgarter Zeitung, 18. April 2017

Lisa Haas will ins All, seit sie denken kann. Sie ist eine von sechs Finalistinnen im Wettbewerb „Die Astronautin“. Aller Kritik am Wettbewerb zum Trotz findet sie: wir haben genug gewartet! Es müssen mehr Frauen ins All.

Hach die Physik! Der weiße Klettergriff unter der rechten Hand von Lisa Haas ist groß aber abschüssig, der unter der Linken nicht besser, ihr linker Fuß steht auf einem winzig kleinen Tritt, der rechte Fuß angelt nach einer Kante, die einfach nicht näher kommen will, aus den Lautsprecherboxen tönt kämpferische Musik, aber auch das hilft nichts: Die rechte Hand rutscht ab, die Kletterin stürzt aus der Wand und landet auf einer großen weichen Matte. Die Menschen um sie herum in der Tübinger Boulderhalle fluchen, wenn sie wie Haas aus der Wand fallen wie eine Tür, die schief in den Scharnieren hängt. Aber sie lacht. „Das ist Physik“, ruft sie begeistert, Gleichgewicht, Reibungskräfte, der Schwerpunkt und die verdammte Schwerkraft – „was man hier alles sehen kann!“

Ja die verdammte Schwerkraft. Was würde Lisa Haas geben, um ihr zu entkommen, und sei es nur für ein paar Tage! Die 33-jährige promovierte Physikerin möchte ins All und hat dafür schon größere Hürden genommen als dieses weiße Boulderproblem, das sie an diesem Tag noch oft abschütteln wird.

480 Frauen haben sich beworben, um Deutschlands erste Astronautin zu werden. Nach einer Reihe an kognitiver und psychologischer Tests, nach medizinischen Untersuchungen und Fitnesstests schrumpfte die Zahl zunächst auf 120, dann auf 90, auf 30, schließlich acht – und nun sechs. Nach jeder Runde rieb sich Lisa Haas verwundert die Augen: „Da sind so viele tolle Frauen, die haben alle etwas besonderes in ihrem Leben gemacht!“ Es erschien ihr jedes Mal wie ein Wunder, es selbst so weit geschafft zu haben. Jetzt hat sie rein rechnerisch eine Chance von 33 Prozent, die Ausbildung zur Astronautin anzutreten. Zumindest wenn man den Organisatorinnen des Wettbewerbs „Die Astronautin“ glaubt, die am Mittwoch zwei Frauen auswählen, von denen eine 2020 für zehn Tage zur Internationalen Raumstation fliegen soll.

Weltraumtourismus nennen viele Kritiker diesen Kurzzeitaufenthalt im All verächtlich. Aber es ist natürlich mehr als das. „Wie alle Astronauten werden wir als Versuchskaninchen dienen“, sagt Haas: während der männliche Hormonhaushalt in der Schwerelosigkeit schon gut erforscht ist, weiß man kaum etwas über Frauen – es waren einfach noch zu wenige von ihnen im All. Und Haas will natürlich selbst forschen, und obendrein ein Vorbild sein, so wie sie es ist als starke Frau beim Bergsteigen, beim Klettern, als Teamleiterin bei Bosch, als Vollzeit arbeitende junge Mutter. „Wenn das Ganze allein dazu beiträgt, dass Mädchen das sehen und sich denken: Ich will auch Wissenschaftlerin werden, dann bin ich glücklich“, ruft sie aus. Wieso hat Deutschland 30 Jahren nach dem ersten Mann noch keine Frau ins All geschickt? „Es ist höchtste Zeit“, sagt sie.

Aber es gibt auch diese anderen Fragen, die Zweifel am Wettbewerb, die Lisa Haas besser nicht aufkommen lässt: Wäre es der Gleichberechtigung nicht dienlicher, wenn Deutschlands erste Astronautin auf dem gleichen Weg wie die unzähligen Männer ins All geschickt würde? Also über ein offizielles Auswahlverfahren der europäischen Raumfahrtagentur Esa und innerhalb deren Astronautenkorps? Was geht das Ganze eigentlich einen Personaldienstleister wie He Space an, dessen Geschäftsführerin Claudia Kessler den Wettbewerb initiiert hat? Und wieso wählt die Esa ihre Astronautin nicht selbst aus, wenn sie eine bräuchte? Hej, sie hat es nunmal nicht getan, antwortet Haas. Und das nächste Auswahlverfahren ist in ungewisser Zukunft. Es gibt zwei Optionen: warten und hoffen. Oder selbst aktiv werden. Claudia Kessler hat sich für zweiteres entschieden. „Die Astronautin soll Frauen und Mädchen das Gefühl geben: „Ich kann das auch!“, sagt sie. Solche Vorbilder seien für Deutschland wichtig, gerade Lisa Haas mit ihrer Karriere sei ein gutes Beispiel.

Doch auch wenn Claudia Kessler ihren Wettbewerb gut verkaufen kann: er steht auf wackligen Füßen. Die erste Phase soll über Crowdfunding finanziert werden. Aber noch fehlt die Hälfte der 50.000 Euro auf https://www.startnext.com/dieastronautin, mit denen die ersten Trainings finanziert werden sollen. Und wer ehrlich ist, muss zugeben, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. „Ein Raumflug kostet 30 bis 50 Millionen Euro inklusive der Ausbildung“, sagt Lisa Haas. Aber diese Summe schreckt sie nicht. Wenn Deutschland dieses Vorbild wichtig ist, werden sich genug Sponsoren finden aus dieser Industrie, die immer über den Fachkräftemangel klagt und sich mehr weibliche Vorbilder wünscht, davon ist sie überzeugt.

Lisa Haas kann nicht anders, als daran zu glauben. Es ist ihre vorerst einzige Chance, um ihren Kindheitstraum zu verwirklichen. Seit sie denken kann, will sie Astronautin werden. Der Wunsch ist so alt, dass sie sich im Gegensatz zu Alexander Gerst nicht einmal daran erinnern kann, wann er zum ersten Mal in ihren Kopf kam. Er war einfach schon immer da. Welche Kräfte genau halte die Welt zusammen? Mit dieser Frage hat schon die kleine Lisa die Geduld ihrer Lehrer strapaziert, „warum genau stoßen sich Elektronen ab?“, fragte sie schließlich einen Physiklehrer am Gymnasium, der eigentlich schon froh gewesen wäre, wenn sich alle Schüler diese Tatsache zumindest mal gemerkt hätten. Aber Lisa Haas wollte alles schon immer etwas genauer wissen, und ihre Freundinnen mussten sich daran gewöhnen, dass sie im gemeinsamem Urlaub am Strand Bücher über Quantenfeldtheorie verschlang. Dort fand die Nürtingerin schließlich erste Antworten, mehr davon im Physikstudium in Heidelberg und in ihrer Promotion über Quantenphysik.

Jetzt wo sie weiß, was die Welt im inneren zusammenhält, will die Physikerin, die Vollzeit bei Bosch arbeitet, unseren Planeten endlich auch von außen sehen. Das berichtet sie von oben, an einem Griff hängend, diesmal ist er groß, aber die Wand hängt über, die junge Frau schlingt Arme und Füße um henkelige Griffe und trotzt so der Schwerkraft. „Wir kennen noch so wenig von unserem Umfeld, der Erde im Sonnensystem und den anderen Planeten“, sagt sie, allein der Blick von außen auf unseren Planeten sei so wichtig: „Diese Perspektive macht einem klar, wie zerbrechlich unsere Erde eigentlich ist und wie wertvoll, sie schützt uns vor dem lebensfeindlichen All.“ Live-Physikunterricht möchte sie zudem auf der ISS machen, Kinder sollen aus ihrem Klassenzimmer zuschauen und Experimente vorschlagen können. Ist das vorgesehen für ihre Reise? „Das ist mir egal, das würde ich einfach machen!“, ruft sie unbekümmert.

Aber bis dahin steht harte Arbeit an, jahrelanges Training ganz anderer Art als hier in der Boulderhalle. „Versuchs doch mal so“, ruft sie einer Mitkletterin zu, die immer wieder am Einstieg eines Boulders scheitert, Haas dreht die linke Körperseite zur Wand statt der rechten, streckt den Arm – und siehe da: jetzt genügt die Reibung gerade so, die Hand rutscht nicht mehr ab, der Fuß findet Halt. Physik! Nicht immer intuitiv, gibt Haas zu, „aber sobald man ein Bild dazu vor Augen hat, versteht man es.“ Zumindest sie, die sich auch die Zusammenhänge zwischen den Quanten bildlich vorstellen kann, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen. Es ist mit der Physik wie mit der Kletterei wie mit der Raumfahrt: „Man braucht eine gewisse Frustrationstoleranz.“ Bei der letzten Ausschreibung der Esa für das Astronautenkorps hätte sie Alexander Gersts Konkurrentin werden können. Aber sie war genau ein Jahr zu jung. Sie probierte es natürlich dennoch „aber mein Geburtsjahr war nicht vorgesehen im Online-Formular“ - ebenso wenig das Jahr ihres Studienabschlusses: sie hielt gerade ihr Diplom in der Hand, aber die Ausschreibung verlangte zusätzlich Berufserfahrung.

Jetzt ist sie ihrem Traum näher denn je, „es würde mir so viel bedeuten.“ Aber da sind diese fünf Konkurrentinnen, allesamt ebenfalls hochqualifizierte, fitte junge Frauen. „Wir quatschen jeden Tag miteinander“, sagt sie, sie geben sich Tipps per Whatsapp, rätseln, worauf es wohl ankommt beim finalen Interview am Mittwoch und wo sie sich abends in Berlin treffen können. Alles so harmonisch? „Wir sind ein Team, wir werden keine Ellbogen ausfahren“, sagt sie beinahe empört – wieso sollte sie ihren härtesten Konkurrentinnen im Kampf um ihren sehnlichsten Lebenstraum Schlechtes wünschen? Das können wohl nur wirklich teamfähige Menschen verstehen, solche uneigennützigen Wesen, wie sie die Astronauten-Headhunter verzweifelt suchen. Schließlich müssen diese nicht nur lange Zeit auf engstem Raum unter nicht gerade gemütlichen Umständen miteinander verbringen, umgeben von einer lebensfeindlichen Umgebung, bei der man im Streit nicht mal eben vor die Tür gehen kann. Sie müssen auch in Stress- und Notsituationen richtig reagieren, einen klaren Kopf behalten und schnell entscheiden.

Lisa Haas kennt das vom Bergsteigen, wo sie mehr als einmal umgekehrt ist, wenn die Situation zu gefährlich wurde. Hat sie keine Angst? „Ich würde eher Respekt sagen“, sagt sie – Angst lähme, aber dieser Respekt, dieses Wissen um mögliche Gefahren, der sei wichtig. Ihre beiden kleinen Söhne, drei und fünf Jahre, sind bei den Großeltern, wenn sie mit ihrem Mann in die Berge zieht. Sollte sie am Mittwoch für das Astronautentraining ausgewählt werden, wird sie die Kinder einige Zeit nur alle paar Wochen sehen können. „Das wird für mich härter als für sie“, sagt sie: Das Betreuungsnetz ist schon jetzt gut gestrickt, unter der Woche übernehmen die beiden Omas je einen Nachmittag, die Großväter übernehmen abwechselnd den Freitag, ihr Mann arbeitet einen Tag im Homeoffice und einen Nachmittag baut sie selbst Überstunden ab. Der gesamte Kindergarten drückt die Daumen, was kann da  schon schief gehen. „Mama, irgendwann fliegen wir zusammen zum Mond“, hat der Große neulich ihre Karrierepläne kommentiert. Und der Kleine hat ihr beim Backpulver-Raketen-Basteln zugerufen: „Mama, brauchen wir jetzt noch Wasserstoff?“ Als Fachmann weiß er, dass der eigentlich in jeden guten Raketentreibstoff gehört.

Nach dem Training sitzt Haas mit einer Limonade an der Theke, die Hände weiß vor Kalk, die Muskeln der Unterarme brennen, den Kopf voller Pläne. Was wenn es nicht klappt mit dem Wettbewerb? Was wenn er sie am Boden stehen lässt wie jene verflixte weiße Route? „Ich habe ein schönes Leben“, sagt Haas. Zwei süße Jungs, eine gesunde Familie, einen Traumjob, verständnisvolle Kollegen und Chefs, die das Konstrukt Work-Life-Balance nicht nur als Worthülse begreifen. Die ersten beiden Tage werden hart werden, aber spätestens zwei Tage später, spätestens am Freitag also, wird sie sich mit der Schwerkraft arrangiert haben. Zumindest vorerst.