Wissenschaftsreportage Technik Eva Wolfangel

 Reportagen Nr. 45, März 2019

 

Der Schleier fällt der alten Dame vor die Augen, als die Braut sie umarmt, sie spürt das aufgeregte Zittern der jungen Frau, sieht ihre nackten Schultern, bewundert das silbrig-schimmernde Haarband, den dunklen Dutt. Er ist so glatt, als wäre er aus Porzellan. Dann hebt die Braut den Schleier. Ihr Gesicht kommt immer näher, so nah, dass es unscharf wird.

Die alte Dame sieht die Brautmutter, die vor Rührung weint, den Brautvater. Und dann kommt er endlich. Der Bräutigam, ihr Enkel! Für die alte Dame ist er wie ein Sohn. Und nun wird er heiraten. Natürlich würde die alte Dame bei diesem Ereignis dabei sein, das war ihr immer klar gewesen. In der Menge der Feiernden würde sie stehen, eine der ersten Gratulantinnen sein. Doch das Leben kam anders. Und mit ihm eine Horde junger Männer, Freunde ihres Enkels, die sie zu einem Versuchskaninchen machten für eine neue Technologie, die sie „Augmented Human“ nennen, der erweiterte Mensch.

Dass bei dieser Idee die Grenzen verschwimmen, spürt die alte Dame gerade am eigenen Körper. Sie steht mitten unter den Feiernden – aber eigentlich nicht richtig. Ihr Enkel sieht sich ein wenig unsicher um, dann stürzt er auf seine Großmutter zu und schlägt seine Arme um sie. Seine großen, erwartungsvollen Augen, das silbern glänzende Hemd ohne eine einzige Falte, die Krawatte, an der eine kleine weiße Blume steckt: Die alte Dame betrachtet alles ganz genau, bevor sie seine Umarmung erwidert. Der Enkel küsst sie auf den Mund. Auf den Robotermund. Eng umschlungen von ihren Roboterarmen.

Die alte Dame sieht die Welt durch die Augen dieses Roboters, weil ihr biologischer Körper den Dienst versagt hat. Mit ihm hätte sie diese Hochzeit nicht besuchen können. Ihr Körper liegt 300 Kilometer weit entfernt in der Präfektur Aichi in einem Altenpflegeheim. Sie kann ihn kaum noch bewegen. Die Pfleger haben die Rückenlehne ihres Bettes für diesen wichtigen Tag hochgestellt. Als sie ihren Enkel umarmt, hebt sie ihre Arme einige Zentimeter in die Luft. Die Pfleger staunen, sie so aktiv zu sehen. Doch die Bewohnerin ist nicht wirklich da. Oder doch?

Sie trägt ein Virtual-Reality-Headset, ein klobiges schwarzes Ding, unter dem nur noch ihr Mund und ein Stückchen ihrer Nase herausschaut. Wenn sie den Kopf bewegt, bewegt ihn der Roboter 300 Kilometer entfernt auf die gleiche Weise – er ist stellvertretend für sie auf der Hochzeit. Um die alte Dame wuseln einige junge Leute herum, die sie gerade nicht sieht. Sie haben ihr Zimmer umgeräumt, damit Platz ist für die Kamera, den Computer und eine längliche Box, die normalerweise zur Steuerung von Spielekonsolen genutzt wird. Jetzt vermisst die Box die Handbewegungen der alten Dame und überträgt sie an die Roboterarme in hunderten Kilometern Entfernung.

Aber all das sieht die alte Dame in diesem Moment nicht. Sie hebt die Hände und umarmt – nichts. Luft. So wirkt es von außen, in diesem Zimmer im Pflegeheim. Sie ist an zwei Orten gleichzeitig – hier ihr biologischer Körper, dort ihr Geist.

Superhuman Stufe 1: zwei zusätzliche Arme

Weitere 360 Kilometer entfernt gen Osten, an der Keio-University, sitzt der Mann, der all das möglich gemacht hat. Ganz am Ende des Flurs, links hinter einer Tür mit der Aufschrift „Geist Forschungsgruppe“. Dort kauert MHD Yamen Saraiji am Boden und schraubt gerade am rechten Arm eines Roboters herum. Dessen Hand ist seltsam verdreht; „oooooh“ entfährt es Yamen schließlich, ein winziges Kabel in der Hand, das in der Luft endet, wo es nicht enden sollte.

So wie die alte Dame wäre auch Yamen manchmal gerne an mehreren Orten gleichzeitig, Beispielsweise in Syrien, seiner Heimat, die der 31-jährige Mann vor knapp sieben Jahren verliess. Und gleichzeitig hier in diesem seltsamen Raum voller Technik: In der Mitte ein Tisch, auf dem Virtual Reality Headsets liegen, drumherum Bürostühle, Regale voller Kabel, Stecker, Kameras, Sensoren, Kisten mit buntem Papier und Wollknäulen. Wegen seiner eigenen Zerrissenheit zwischen den Orten hat Yamen das Anliegen des jungen Mannes, der ihn fragte, ob er nicht ein Telepräsenzsystem für seine geliebte Großmutter bauen könnte, sofort verstanden.

Wobei: Telepräsenz? Yamen spricht lieber von Teleexistenz, denn schließlich sei „der Geist“ dann an einem anderen Ort. Der Geist, die Seele; eben das, was einen Menschen jenseits des biologischen Körpers ausmacht. So sei bei Teleexistenz nicht ganz klar, wo der Nutzer sich eigentlich gerade aufhalte, erklärt Yamen: dort, wo sein Körper ist, oder dort, wo sein Geist weilt – oder an beiden Orten gleichzeitig? Wo hört der Mensch auf? Und wo fängt die Maschine an?

2012 kam Yamen als Promotionsstipendiat nach Tokio. Damals konnte er nicht wissen, dass er mit seinen Experimenten rund um die verschiedenen Anteile des Menschen, den Körper und den Geist eines Tages in der „Augmented-Human“-Szene relativ bekannt werden würde. Am meisten verstörten ihn kurz nach seiner Ankunft aber nicht die Japaner selbst, die auf den quirligen Syrer ungewöhnlich reserviert wirkten. Auch nicht die komplizierte Sprache, mit der er bis heute zu kämpfen hat. Das Verstörendste waren für Yamen die vielen Comics in dem Labor, in dem er die folgenden Jahre verbringen soll.

„Ein Kulturschock“, sagt er heute selbst dazu. Irgendwann fasste er sich ein Herz und fragte seinen Doktorvater: „Sind wir hier, um zu forschen – oder um Comics zu lesen?“  Und so erfuhr er die ganze Wahrheit über jene Idee, die die japanischen Forscher antreibt: Sie geht zurück auf „Ghost in the Shell“, einen japanischen Manga von 1989, von dem es auch verschiedene Anime gibt: Zeichentrickfilme. Dieser Manga handelt von der Zukunft im Jahr 2029: Viele Menschen leben dem Comic nach dann schon nicht mehr in ihrem biologischen Körper, sondern in künstlichen. In diesen befinden sich verpackt in einer Biokapsel (der sogenannten Shell) menschliche Gehirnzellen mit einem subjektiven Geist (Ghost). So bleibt die Identität, die individuelle Persönlichkeit eines Menschen, erhalten – trotz seines Maschinenkörpers.

Als der Doktorvater den Schock in Yamens Blick bemerkt, nimmt er ihn zur Seite und sagt: „Die Mangas inspirieren uns. Ohne sie wäre Japan nicht so führend in der Robotik.“ Aber Yamen fragt sich, ob er das überhaupt will, diese Vision. Bis zu diesem Punkt seines beruflichen Lebens hat er an Virtueller Realität geforscht und sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt. Aber Cyborgs? „Mir kam das alles ziemlich verrückt vor“, sagt er heute. Mittlerweile ist von seinem ehemaligen Unbehagen nichts mehr übrig: „Wir gestalten die Zukunft, nicht die Gegenwart.“ Als „Ghost in the Shell“ entstand, war diese Zukunft noch 40 Jahre weit entfernt. Heute sind es nur noch zehn.

Seit Yamen den Geist einer alten Dame in einen Roboter transferiert und gesehen hat, zu welchem Glück das führte, ist er sehr offen für diese Zukunft. „Wir können disabilities in abilities verwandeln“, sagt er – Behinderungen in Befähigungen. „Diese alten Menschen leben schließlich noch, und das ist so wertvoll, wir müssen ihnen auch das Gefühl geben, dass sie leben.“ Und dann ist ihm noch eine Idee gekommen, an deren Verkörperung er gerade herumschraubt: Wenn wir in einen anderen Körper schlüpfen können, wieso muss der eigentlich so funktionieren wie unserer? Wäre es nicht nützlich, diesen Körper um zusätzliche Funktionen zu erweitern? Um solche, die uns fehlen? Yamen hat „Metalimbs“ entworfen, wie sein Projekt heißt: zwei Roboterarme, die man wie einen Rucksack tragen und mit den eigenen Füßen steuern kann. An diesen schraubt er gerade herum, denn gleich kommen seine Probanden. „So hast du vier Arme zur Verfügung“, sagt er, als wäre dieser Wunsch nach mehr als zwei Armen das natürlichste Bedürfnis der Welt. Er hat mit seinen Freunden einen Film gedreht, der zeigt, wie nützlich zwei weitere Arme sein könnten: Der Protagonist im Film ist ein typischer Forscher, der am Computer arbeiten und gleichzeitig Kaffee trinken will – und dabei mit beiden Händen weiter tippen möchte. Dank Metalimbs schafft er beides: Tippen und Kaffee trinken, zur gleichen Zeit.

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Das ist nur der Anfang meiner aktuellen Reportage im Schweizer Magazin reportagen. Aus rechtlichen Gründen darf sie hier nicht komplett erscheinen. Weiterlesen könnt ihr hier.